Achim Biesenbach - Praxis für Psychotherapie - Hilden

Verhaltenstherapeutische Aspekte der Behandlung somatischer Erkrankungen unter besonderer Berücksichtigung der multiplen Sklerose

zum Index

5. Verhaltenstherapie bei somatischen Erkrankungen

5.2 Beispiel aus der Praxis

Der Patient war bei Beginn der Therapie, im April 1994, 31 Jahre alt und studierte im 6. Semester. Er war mit zwei älteren Schwestern bei den leiblichen Eltern aufgewachsen. Die Ehe der Eltern war bis zur Berentung der Eltern nicht sehr gut, es gab häufige Auseinandersetzungen untereinander und mit den Kindern. Die ältere Schwester ist seit ihrem 17./18. Lebensjahr in ständiger psychologischer und psychiatrischer Behandlung.

1990 waren bei dem Patienten die ersten Symptome einer Multiple-Sklerose-Erkrankung aufgetreten, die sich dann relativ schnell zurückgebildet haben. Eine Diagnose wurde damals noch nicht gestellt.

Im Januar 1994 traten bei dem Patienten Lähmungserscheinungen und Taubheitsgefühl in den Beinen und im Zungen/Schlundbereich auf, begleitet von leichten Sehstörungen. Er wurde in die Klinik eingewiesen. Es bestätigte sich dann, dass der Patient an einer multiplen Sklerose leidet. Die Diagnose hatte bei dem Patienten schwere psychische Störungen ausgelöst, er reagierte mit Angst, Verzweiflung, Depression und suizidalen Gedanken. Die durch die Multiple Sklerose bedingten Symptome sind unter medikamentöser Behandlung sehr schnell abklungen, konnte er nach ca. 4 Wochen aus der Klinik entlassen werden.

Die psychischen Symptome verschlechterten sich, der Patient reagierte mit sozialem Rückzug und Verzweiflung. Er hatte, obwohl keine körperlichen Symptome mehr vorlagen, sein Studium abgebrochen. Als er zu mir kam, war er niedergeschlagen und depressiv, er hatte Probleme im zwischenmenschlichen Bereich.

Zu Beginn der Therapie stand die Auseinandersetzung mit der Diagnose "Multiple Sklerose" an erster Stelle und die Therapie der Depression mittels kognitiver Umstrukturierung. Dazu gehörte dann auch, dass der Patient sich einer Multiple-Sklerose-Gruppe anschloss.

Ich hielt es aus therapeutischen Gründen für wichtig, dass der Patient unbedingt sein Studium wieder aufnahm. Da das Sommersemester 94 begann, haben wir parallel eine Studienplanung gemacht und die Ziele für dieses Semester abgesteckt.

Der Patient hatte unabhängig von seiner Multiple-Sklerose-Erkrankung, unter Prüfungsangst gelitten. Jetzt nach der Erkrankung schob er körperliche Symptome vor, um sich vor Referaten und vor Fachgesprächen zu drücken. Wir haben dann die Referate und die Fachgespräche in sensu eingeübt. Er machte gute Fortschritte im Studium, suchte sich einen Studienkreis und hat im Januar 1995 dann sein Vordiplom bestanden.

Der Patient neigte immer wieder dazu sich zu überfordern, wenn er sich wohl fühlte. Bei negativen körperlichen Symptomen schaltete er dann auf vollkommene Schonhaltung um und forderte von seiner Umgebung Rücksicht auf seine Beschwerden und Befindlichkeiten.

Verhaltensanalyse

Motorik:
deutliche Verkrampfung und Anspannung, Bewegungen verlangsamt, abgehackt
Kognitionen:
er vermutet, dass er bei Auseinandersetzungen menschlich abgewertet wird, empfindet seine Erkrankung als Strafe, als Makel, denkt, dass er im "Rollstuhl endet".
Emotionen:
fühlt sich überfordert, schwierigen Situationen nicht gewachsen, reagiert auf Stress und auf seine Erkrankung mit Rückzug, Wut und/oder Depression,
Physiologie:
innere Unruhe, Herzklopfen, Müdigkeit, Schwindelgefühl, Konzentrationsschwierigkeiten.

Funktions- und Bedingungsanalyse für die Verhaltenstherapie:

S-O-R-K-C - Modell nach Hautzinger

S(D)
in problemgeladenen partnerschaftlichen Situation (fühlt sich überfordert, minderwertig, als Mensch abgelehnt), Situationen, die mit der Multiple-Sklerose-Erkrankung zusammenhängen.
S(X)
in harmonischen familiären, partnerschaftlichen und freundschaftlichen Situationen
O
multiple körperliche Beschwerden, innere Unruhe, Herzklopfen, Müdigkeit, Schwindelgefühl
R
Gefühle der Überforderung "sich-nicht-gewachsen-fühlen", grübeln über Fehlverhalten, Gedanken an eine vollständige Bewegungsunfähigkeit und den Tod, Hilflosigkeit, auf die Multiple-Sklerose-Erkrankung reagiert er mit Depression, Wut, Unsicherheit und sozialem Rückzug
C(-)
eigene Inkompetenz, Minderwertigkeitsgefühl, Empfindungen der Ablehnung oder Kritik durch andere,
C(+)
Anerkennung durch andere, offenes Ausdrücken von Problemen, die mit der Erkrankung im Zusammenhang stehen
S(D)
Auslösende Bedingungen
S(X)
Nicht Auftreten
C(-)
Negative Verstärkung
C(+)
Positive Verstärkung

Ergebnis der Therapie

Der Patient hatte gelernt angemessen mit seiner Multiple-Sklerose-Erkrankung umzugehen, durch Umstrukturierung konnten seine dysfunktionalen Kognitionen positiv verändert werden.

Er hat sein Studium erfolgreich wieder aufgenommen. Sein Sozialverhalten verbesserte sich. Durch Multiple Sklerose bedingte Schübe sind bis zum Ende der Therapie im Oktober 1995 nicht mehr aufgetreten. Seine körperlichen Einschränkungen waren relativ gering.

Der Patient hatte seine Therapieziele erreicht. Die Psychotherapie kann als erfolgreich angesehen werden. Da er sich bis jetzt nicht mehr gemeldet hat, ist davon auszugehen, dass er heute allein mit seiner Situation zurecht kommt, d.h. dass sich nicht nur seine aktuelle Situation verbesserte sondern, dass er für die Zukunft angemessener mit Problemen umgehen kann.

Die Psychotherapie dauerte 18 Monate. Zu Beginn hatte der Patient einen Termin pro Woche später wurden die Intervalle kontinuierlich verlängert. Es wurden 55 Stunden benötigt zu einem Gesamtkostensatz von 5000 DM.

weiter: Evaluation
zurück: Verhaltenstherapie bei somatischen Erkrankungen
zurück zum Index: "Verhaltenstherapeutische Aspekte der Behandlung somatischer Erkrankungen unter besonderer Berücksichtigung der multiplen Sklerose"